Die Stadt Willenberg liegt 125 m über dem Meeresspiegel in der Sand- und Heidelandschaft des "Willenberger Sandrs" zwischen den beiden Flüssen Omulef und Sawitz.
Bemerkenswertes aus Geschichte und Wirtschaft
Willenberg ist eine Gründung des Deutschen Ritterordens (wahrscheinlich 1361). Neben der Stadt befand sich ein Eisenwerk, das das dort reichlich vorkommende Rasensteinerz verarbeitete. Durch ihre Lage an der Durchgangsstraße Königsberg-Warschau hatte die Stadt große wirtschaftliche Vorteile. Hier entfaltete sich früh ein blühendes Tuchmachergewerbe, das in seiner Entwicklung besonders dadurch begünstigt wurde, daß aus Polen Wolle zollfrei eingeführt werden konnte. Ganze Straßenzüge, wie die frühere Ruda-, spätere Schleusenstraße, ein Teil der Beutnervorstadt, jetzt Hindenburgstraße, wurden nur von Tuchmachern bewohnt. Die Tuchmacherinnung, die größte und reichste in der Stadt, besaß eine eigene Walkmühle; das Handwerk entwickelte sich bis zur Großfabrikation. Erzeugnisse der Willenberger Tuchmacher wurden bis nach Warschau und Königsberg geliefert. Bei dem regen Handelsverkehr mit Polen war daher die wirtschaftliche Lage der Stadt im 18. und 19. Jahrhundert eine günstige.
In den Jahren 1743 und 1763 wurde die Stadt durch Brände heimgesucht. Von ihren Schicksalen im unglücktichen Kriege und in den Jahnen 1811 und 1812 ist bereits berichtet (vgl. die Ausführungen auf S. 96 f!). Auch im 19. Jahrhundert erlebte die Stadt oft Zeiten der Not und schwere Katastrophen. So brachten die Jahre 1834 bis 1838 große Mißernten. Im Jahre 1852 wütete in der Stadt die asiatische Cholera. Am 24. August 1868 brannte die ganze Rudastraße ab. Dem Brande fielen über 40 Gebäude zum Opfer. Die Häuser sind zum größten Teil nicht wieder aufgebaut worden. Die Tuchmacher stellten ihr Gewerbe ein.
Die regelmäßig einsetzenden Überschwemmungen bereiteten der Bevölkerung immer wierder große Schwierigkeiten. Erst Landrat von Poser gelang es, ein Projekt zur Durchführung zu bringen, das nicht nur die Willenberger Feldmark, sondern alle bis zur Landesgrenze gelegenen versumpften Omulefwiesen in beste Wiesen und Ackerflächen verwandelte. Ein wirtschaftlicher Aufstieg begann allenthalben. Dieses Werk war für unsere Grenzstadt und darüber hinaus ein wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Erfolg ersten Ranges.
Das wirtschaftliche Leben
Die durch die Meliorationen bewirkte Aufwärtsentwicklung wurde in der An- und Verkaufsgenossenschaft durch einen gesteigerten Umsatz sichtbar.
Im Zeichen der günstigen Entwicklung stand auch der weitere Ausbau der Salppschen Meierei (vgl. die Ausführungen auf S. 235f!).
Über den Stand des Handwerks und dem Umfang der Ladengeschäfte vgl. die Ausführungen auf S. 226 und 241.
Die Vieh- und Pferdemärkte zählten wohl zu den größten im Süden der Provinz. Sie waren meist sehr gut besucht. Auf manchen Märkten wurden (laut Karten für Standgeld) bis zu 2000 Stück Vieh angetrieben. Das Vieh kam aus der Neidenburger, Ortelsburger, Passenheimer, sogar Bischofsburger Gegend. Die erschienenen Händler stammten aus Berlin, Sachsen, Westfalen. Drei Hotels, Gasthöfe und Privathäuser waren überbelegt. Der Handel zog sich bis in den späten Nachmittag hinein.
Aufbau der Stadt nach dem ersten Weltkrieg
Obwohl die Russen Willenberg zweimal besetzt hatten, war die Stadt ziemlich verschont geblieben. Es waren nur 3 Wohnhäuser und 22 Wirtschaftsgebäude abgebrannt. Dafür waren aber die Straßen durch den Durchzug verschiedener Truppenverbände erheblich mitgenommen. Bei meiner Rückkehr aus dem Felde ließ ich zunächst das Pflaster in mehreren Straßen ausbessern und die Bürgersteige neu anlegen. Es folgte der Neubau zahlreicher Häuser, vorwiegend Beamtenhäuser, für die die Regierung großzügig die Mittel gewährt hatte.
Da die Stadtschule räumlich und auch sonst modernen Ansprüchen nicht mehr genügte, wurde ein Neubau geplant. An der Ortelsburger Chaussee wurde mit Hilfe von staatlichen Geldern eine neue Schule errichtet und 1927 feierlich eingeweiht. Gleichzeitig wurde auch ein Gelände als Schul- und Sportplatz angekauft. Die Schule hatte 11 Klassen, Aula, Lehrerzimmer, Zeichensaal, einen großen Raum für Handfertigkeitsunterricht, Bade- und Duschräume.
In der evangelischen Kirche, die von den Russen als Speicher benutzt worden war, wurden das hohe Altarbild und die Kanzel restauriert. Die Orgel wurde instandgesetzt, das Gestühl neu gestrichen und das Kirchenschiff mit seinen hohen Säulen und den beiden Emporen in weiß und gold ausgemalt. Die im Kriege abgenommenen Glocken wurden durch neue Glocken ersetzt.
Das Elektrizitätswerk: Die Stadt hatte bereits im Jahre 1900 elektrisches Licht. Das Elektrizitätswerk wurde von den Mühlenwerken Henkel mit Wasserkraft betrieben. Schon während des ersten Weltkrieges stellte es sich heraus, daß das Werk den Ansprüchen nicht mehr genügte. Oft traten Störungen ein. Es wurde daher beschlossen, sich an das Überlandwerk anzuschließen. Dieses war zunächst wegen der Kosten der Leitunglegung von Ortelsburg nach Willenberg nicht sehr geneigt, die Stadt mit Elektrizität zu versorgen. Nach meiner Rückprache mit dem Direktor des Überlandwerkes in Königsberg und dem Landeshauptmann Blunk wurde doch die Zuleitung gelegt. Mit Siemens-Schuckert wurde das Transformatorenhaus gebaut, die eisernen Masten von uns in der Stadt aufgestellt und Kupferleitungen gezogen. Zuleitungen wurden von der Stadt an jedes Haus, auf Antrag, kostenlos herangelegt, so daß in kürzester Zeit fast jedes Haus elektrisches Licht hatte. Der Straßenbeleuchtung dienten die in der Mitte der Straßen hängenden Lampen. Der Reingewinn aus der Stromlieferung betrug bereits im ersten Jahr über 3000 RM, erhöhte sich in jedem Jahr und betrug 1944 70 000 RM, so daß die Stadt eine sichere dauernde Einnahme hatte.
Bürgermeister a. D. Paul Romanowski (Unter Benutzung der Geschichte der Stadt Willenberg, von Emil Merks) in "Der Kreis Ortelsburg" S. 343-345 [1957] © 1995 by Kreisgemeinschaft Ortelsburg
Das kleine, stille Städtchern, von den Flüssen Omulef und Sawietz durchflossen, hat sein werchselvolles Schicksal als Vorposten des Deutschtums durch Jahrhunderte geduldig und zäh getragen. Auch Waffenstillstand und Kriegsende 1918 brachten für Willenberg nicht die ersehnte Ruhe: Arbeiter- und Soldatenrat, deutsche Grenzschutztruppen zum Schutze der 14 Kilomerter entfernten Grenze gegen die unberechtigten Ansprüche Polens und Wechsel in der Stadtverwaltung hielten die Bevölkerung in Unruhe und Ungerwißheit über das weitere Schicksal der Heimat.
In diese Zeit fiel das Friedensdiktat von Versailles mit der Abschließung Ostpreußens vom Vaterland, mit seinem harten Bestimmungen für die Erprobung des Deutschtums in den Abstimmungsgebieten unter interalliierter Kontrolle. So begann sich im Jahre 1919 die Herrschaft der interalliierten Kommission auch für Wilienberg auszuwirken. Bürgermeister Romanowski übernahm mit neugewähltem Magistrat die Stadtverwaltung zunächst mit vielen Sorgen und Lasten, aber mit fester Zuversicht auf die kommende Abstimmung.
Am 26. Mai 1919 wurde zum Schutze der Stadt eine Bürgerwehr gegründet. Amtsgerichtsrat Reinboth wurde Führer der 90 Freiwilligen. Die Grenzschutztruppen mußten bestimmungsgemäß das Abstimmungsgebiet verlassen. Nun war die Bevölkerung im Kampf um die deutsche Heimat auf sich selbst gestellt. Die gemeinsame Not überwand alle trennenden Schranken der Konfession, des Standes, der politischen Meinung. Der neugegründete Heimatverein hatte alsbald 1000 Mitglieder. Vorsitzender war Kaufmann Wilhelm Pilch. In zahlreichen Volksversammlungen, Entschließungen und Festen kam der einmütige Wille der Bevölkerung zum Ausdruck, beim Reich zu verbleiben. Schulen, Vereine und Verbände stellten sich für die Ausgestaltung der Veranstaltungen zur Verfügung. Von der Lehrerschaft standen Rektor Bergmann als Redner, Musiklehrer Belusa als Chorleiter und Lehrer Otto Dorka als Vorsitzender des Willenberger Turnvereins in vorderster Front
Mit Beginn des Jahres 1920 rückte der Abstimmungstermin näher. Als Mitglieder für den Abstimmungsausschuß der Stadt Willenberg wurden ernannt: Kaufmann Leo Wiechert als Vorsitzender, Rechtskonsulent Rogalski, Gemeindehelfer Bassarek, Kaufmann Pilch, Buchhändler Prieß, Stadtsekretär Merks und Sattlermeister Loch.
Über den denkwürdigen Tag der Abstimmung am 11. Juli 1920 besteht folgender historischer Bericht:
"Die Abstimmung ergab hier eine überwältigende deutsche Mehrheit. Von 1875 Gesamtstimmen sind nur 24 auf Polen gefallen, da sich im letzten Augenblick noch einige Wankelmütige auf ihr deutsches Vaterland besonnen hatten. Etwa 1000 Abstimmungsberechtigte, die in Willenberg und Umgegend geboren waren, konnten nach langen Jahren Angehörige und Freunde begrüßen, durften ihrer vaterländischen Pflicht mit dem Stimmzettel in der Hand offen und ehrlich nachkommen und so ihr Treuebekenntnis für die Heimat ablegen. Am 10. Juli fand beim Eintreffen des letzten Abstimmungszuges ein feierlicher Empfang aller Abstimmungsgäste am Bahnhof statt. Ein imposanter Festzug mit Tausenden von Teilnehmern aus Stadt und Land bewegte sich durch die Straßen der Stadt zum Marklplatz, wo die Abstimmungsgäste durch Bürgermeister Romanowski und den Vorstand des Heimatvereins begrüßt wurden. Männergesangverein und Kirchenchor brachten nationale Lieder zum Vortrag. Auch ehemalige Willenberger kamen zu Wort und gaben in rührender Weise ihrer Treue für die gefährdete Heimat Ausdruck. So gestärkt schritten ostpreußische Menschen zur Abstimmungsurne. Als am 11. Juli 1920 nach Schluß des Abstimmungsaktes Vorsitzender Leo Wiechert das glänzende Abstimmungsergebnis von der Freitreppe der alten Schule in der Kirchenstraße bekannt gab, ergriff die zu Tausenden auf dem Platz harrende Bevölkerung tiefe Ergriffenheit und Begeisterung. Spontan stimmte die Volksmenge das Niederländische Dankgebet an. Die frohbewegte Stimmung fand ihren denkbaren Ausdruck zunächst in dem am 20. Juli 1920 abgehaltenen Gottesdienst in den Willenberger Kirchen. Am Nachmittag bewegte sich ein stattlicher Festzug mit Festwagen und Reitern von der Flammberger Straße aus durch die prächtig geschmückten Straßen der Stadt nach dem Festplatz im Dombrowawalde an der Oberförsterei."
Der Bericht schließt mit dem Wunsche, daß die erhebenden, weltgeschichtlich bedeutsamen Tage der Abstimmung in den Herzen aller Willenberger fest verankert bleiben mögen. Weltgeschichtlich bedeutsam deshalb, weil am 11. Juli 1920 zum ersten mal das Selbstbestimmungsrecht der Völker in gerechter Weise zur Anwendung kam. Diese machtvolle und eindeutige Willenskundgebung mußte von unseren ehemaligen Gegnern völkerrechtlich anerkannt werden.
Die Grenzstadt Willenberg verblieb beim deutschen Vaterlande!
Alfons Krause in "Ortelsburger Heimatbote" © 1964 by Kreisgemeinschaft Ortelsburg
Bei dem folgenden Bericht handelt es sich um ein Ereignis, welches mit dem russisch-polnischen Krieg im Jahre 1920, der durch einen Angriff der Polen auf die Ukraine eingeleitet worden war. Er verlagerte sich in folge des erfolgreichen Vordringens russischer Armeen bis nach Mittelpolen, sogar mit vorgeschobenen Einheiten der Roten Armee bis nach Graudenz.
Einzelne Gruppen überschritten auch die ostpreußische Südgrenze und wurden dort interniert.
Die Sowjettruppen wurden bis Warschau im August 1920 zurückgeschlagen.
Die von Ludwig Grabosch eingesandten Bilder zeigen zwei Aufnahmen aus dem Jahre 1920. Er berichtet: Durch Zufall erhielt ich die Aufnahme von meinem Freund Walter Kuczewski aus Willenberg, der nach dem zweiten Weltkrieg nach Amerika ging und jetzt in Florida lebt. Walter K. war zuletzt 1986 bei mir zu Besuch. Als er mir die Karte vom Marktplatz in Willenberg zeigte, wurden mir aus der Zeit von 1920 viele Erinnerungen wach, die ich hier weitergeben will.
Wie die Karte zeigt, sind flüchtende Russen die von der Festung Nawo-Georgjewski kamen zu sehen.
Damals, als 10jähriger Junge, ging ich mit meinem Bruder vom Kindergottesdienst in der Kirche nach Hause. Von unserem Elternhaus, welches in der Friedrichshöfer Straße, Willenberg-Abbau noch heute bewohnbar ist, erblickten wir eine lange Reihe von Russen, welche von Friedrichshof kamen. Vor Angst hatten wir uns in ein paar Büschen versteckt. Als wir aber sahen, sie trugen keine Waffen, gingen wir weiter nach Hause.
Durch die zweimalige Flucht 1914-1915 habe ich russische Uniformen gut gekannt, so wußte ich, daß es Russen waren.
Es kamen jeden Tag neue Scharen dieser Truppen, ca. drei Wochen lang, vorbei.
Da mein Elternhaus dicht an der Straße als erstes vor Willenberg stand, baten die ausgehungerten Menschen um etwas zum Essen. Meine Mutter, die durch den Ersten Weltkrieg Witwe wurde, hatte Mitleid mit den vielen Hungrigen, verteilte das letzte Brot, kochte Kartoffeln und machte Mehlspeisen. Wir selbst, fünf Kinder, hatten einige Tage kaum was zum Essen. Auch die Bäcker der Umgegend schafften es nicht, das viele Brot für die Menschen zu backen.
Alle diese Internierten kamen auf einen großen Platz links vom Schlachthof und wurden dort verpflegt.
Für uns Kinder war es etwas Besonderes, so viel Menschen, die in Not waren, zu sehen. Viele Pferde, die sie mit hatten, wurden anschließend sehr billig verkauft.
Diese Menge Menschen wurde nach und nach mit der Eisenbahn abtransportiert. Wohin es ging, war mir damals nicht bekannt.
Die auf dem Bild vorhandenen Fahrzeuge brachten wohl die erste Verpflegung nach einem Marsch von ca. 35 km.
Ludwig Grabosch in "Ortelsburger Heimatbote" © 1987 by Kreisgemeinschaft Ortelsburg
Willenberg, die jüngste Stadt im Kreisgebiet, erhielt erst am 21. Juli 1723 durch Wilhelm I. Stadtrechte verliehen, aber schon 1643 hatte die Ortschaft 11 Krüger, und 1361 wurde auf der künstlich angelegten Insel durch den Orden ein Wildhaus errichtet, das man auch die "Burg" nannte. Auch ein Eisenwerk, Hammerwerk genannt, hatte einst auf dem etwa 10 000 qm großen Areal gestanden, da man in der näheren Umgebung Willenbergs gutes Eisenerz gefunden hate.
Im Jahre 1743 konnte die Stadt nach einem Originalaktenstück, betitelt "Rathäusliches Inventarium", auf der Insel ihre wertvollsten Bauobjekte nachweisen: ein Malz- und Brauhaus, 90 Schuh lang, 30 Schuh breit und 11 Schuh hoch, ferner einen Stadtkrug, 99 Fuß lang, 50 Fuß breit sowie ein Kämmereigebäude, ferner eine Stadtwaage, Polizeigefängnis und eine Wohnung des Ratsdieners. Dieser Besitz ist während der Kriege von 1806/07 und 1812 verlorengegangen. Um die Jahrhundertwende ging die Insel in den Besitz der Schloßbrauerei Daum (Ortelsburg) über.
Von der Hindenburgstraße aus kam man an der Mühle Henkel vorbei über eine kleine Holzbrücke auf die Insel. Gleich links am Omuleffluß stand ein altes Haus mit dicken Festungsmauern und nach außen hin schmal auslaufenden Fenstern. Es war noch ein Teil der alten Wildenburg. Das ehemalige Burggebäude wurde später als Speicher, Molkerei, Rathaus und bis 1930 als Wohn- und Amtsgebäude des Bezirks-Zollkommissars benutzt, danach wurde es nur für Wohnzwecke in Anspruch genommen.
Als mein Vater krank und 1933 arbeitsunfähig wurde, zogen wir in dieses Gebäude ein. Hier starben auch meine Eltern. Hinter dem Haus bis zum Omuleffluß war ein Garten. Hier saßen wir oft als Kinder auf der Wasserbank und ließen die Füße ins Wasser baumeln, dabei blickten wir hinüber auf Henkels Garten, auf die Brücke vor der Schleuse und auf den großen Sägewerkshof mit den vielen Bretterstapeln und den aufgetürmten Baumstämmen. Ständig hörte man das Rauschen der Wasserschleuse. Wenn wir aus der Stadt kamen, empfing uns dieses Rauschen schon von weitem; es gab uns das Gefühl des Zuhause seins. Wenn wir woanders waren, fehlte uns dieses heimelige Geräusch; und noch heute empfinde ich es wohltuend, wenn ich irgendwo Wasserrauschen höre. Es gehörte einfach zu unserer lieben Insel, die meine Heimat war. Hier wurde ich geboren, und hier bin ich aufgewachsen. Es war die schönste Zeit meines Lebens.
Rechts von der Brücke stand das alte Amtshaus der Domänenverwaltung. Hier hatte Napoleon I. vom 21. Januar bis 2. Februar 1807 sein Hauptquartier aufgeschlagen, um hier die Schlacht von Pr. Eylar (7./8. Februar) vorzubereiten. Im rechten Teil des Hauses befand sich eine Dienstwohnung der Zollbeamten. Darüber wohnte der Rentner Johann Scharley, der meist seinen alten Hut auf die Fensterbank legte. Einmal besuchte eine Gruppe junger Leute die Insel. Der "Fremdenführer" erklärte die Sehenswürdigkeiten. Zum Schluß fügte er noch scherzhaft hinzu: " und dort oben sehen Sie den Hut von Napoleon im Fenster liegen."
Rechts auf der Insel war die Bierniederlage Daum mit dem großen Eiskeller. Sie wurde in der Zeit von 1913 bis 1933 von meinem Vater verwaltet. Oft kamen Schulklassen mit ihren Lehrern die Niederlage besichtigen, dann führte mein Vater sie durch den Bierkeller mit seinen Stapeln von Flaschenbier, Limonade, Selterswasser, Faßbier und Kohlensäureflaschen. Wenn Bier auf- oder abgeladen werden sollte, dann wurde eine Rollanlage durch zwei Luken auf die Rampe vor dem Bierkeller geschoben, auf der dann die Flaschenkörbe aus- oder hereinrollten.
Links neben dem Bierkeller war das Büro, rechts daneben der große Eiskeller. Von hier holten sich die Kaufleute und Gastwirte der Stadt und der umliegenden Dörfer das ganze Jahr über Eis, da es damals noch wenig elektrische Kühl- und Gefrieranlagen gab. Im Sommer brachten auch die Fleischer oft ganze Schweine- und Rinderhälften, um sie bei uns auf Eis zu legen. Im Winter, im November, wenn das Eis etwa dreißig Zentimeter dick war, wurde auf dem Omuleffluß vor Henkels Sägewerksplatz mit mehreren Eissägen das Eis in viereckige Stücke geschnitten und mit eigens dafür vorbereiteten Stangen aus dem Wasser herausgezogen. Es wurde dann mit Pferdefuhrwerken zum Eiskeller gebracht und durch Luken in den Eiskeller befördert und aufgestapelt. Wenn der ziemlich hohe Keller halb mit Eis gefüllt war, mußten Gerüste zu den oberen Luken gebaut werden. Nun mußte das Eis von Gerüst zu Gerüst immer höher hinaufbefördert werden, ehe der Keller bis zur Decke gefüllt war. Dann wurden die Luken bis zum nächsten Jahr provisorisch zugemauert.
Für uns Kinder war die Eisernte immer eine aufregende Angelegenheit. Nach Schulschluß stürmten wir auf den Fluß und sahen den Eisarbeitern bei der Arbeit zu. Wenn man nicht aufpaßte oder sich zu weit vorwagte, konnte es passieren, mal ein unfreiwilliges kaltes Bad zu nehmen. Die Kunden der Stadt Willenberg und auch die der umliegenden Dörfer wurden durch den Bierfahrer mit Bier und alkoholfreien Getränken versorgt. Manche Gastwirte, vor allem die der weiteren Umgebung, kamen aber auch selbst das Bier holen. Ich kann mich entsinnen, daß in den Jahren bis 1933 auch ein polnischer Jude mit Namen Dzedziz ab und zu über die polnische Grenze kam, um Bier zu holen. Links vom Bierkeller schloß sich das Wohnhaus mit den Wohnungen für den Niederlageverwalter und den Bierfahrer an. Das alte Gebäude wurde um 1935 abgerissen und durch einen zweigeschossigen Neubau ersetzt.
Außer den Zöllnern und dem Landjäger, die hier wohnten, pflegte auch der Bierfahrer Buttler hier sein Pferd, das zwar schon alt, aber auch klug war.
Die Häuser und Stallungen der Insel bildeten ein großes Viereck. In der Mitte der Insel war unser Obstgarten. Von dem geernteten Obst mußten wir jedes Jahr einen großen Wäschekorb mit Äpfeln und Pflaumen an den Eigentümer Daum nach Ortelsburg abliefern, den Rest teilten wir mit dem Bierfahrer. Hinter den Gebäuden waren für die Insel-Bewohner große Gemüse-, und Kartoffelgärten und Wiesen vorhanden, auf denen wir Kinder uns nach Herzenslust austoben konnten. Mit den Jahren ist der Graben um die Insel herum immer mehr versumpft und verschlammt. Eine Stange konnte man etwa 5 m tief bis zum Grund stoßen. Wenn die Jungens dann nach schnellem Herausziehen der Stange Feuer an die sich schließende Öffnung hielten, entzündete sich für Sekunden eine Moorgasflamme. Im Sumpf davor wuchsen Sumpfdotterblumen, Cala, Schilfpalken, Binsen und andere Gewächse. Am Rande standen Weidenbüsche, Erlen und Buchen. Auf der anderen Seite des Grabens war eine große versumpfte Wiese, die dem Kaufmann Schellong gehörte. Hier stolzierten im Sommer Störche, die nach Fröschen suchten. Sie flogen mit ihrer Beute zu ihren Nestern. Einmal war ein junger Storch in der Nähe von Schellongs Wiese aus dem Nest gefallen. Wir Kinder kletterten über mehrere Zäune und holten den Storch, der sich verletzt hatte. Wir pflegten ihn, bis er wieder gesund war und fliegen konnte.
Der angrenzende Omuleffluß interessierte alt und jung. Hier spülten die Hausfrauen der ganzen Umgebung ihre Wäsche, holten Wasser zum Gießen der Gärten (das Trinkwasser wurde von der Pumpe geholt, die mitten auf der Insel stand) und die Männer angelten Fische. Hier wanderten sie vom Fluß direkt in die Bratpfanne. Selbst wir Kinder bastelten uns aus Weidenruten kleine Angeln, suchten im Sumpf Würmer und fingen Fische. Die kleinen bekam unsere Katze, die großen kamen in die Pfanne. Wenn mein Bruder die Angel holte, war für unsere Katze Alarmstufe 1. Mit großen Sprüngen kam sie angesaust und blieb während der ganzen Angelzeit geduldig auf der Wasserbank sitzen. Wenn ein Fisch aus dem Wasser gezogen wurde, dann sprang sie an der Angel hoch. Ihre Begeisterung ging soweit, daß sie manchmal das unter ihr befindliche Wasser vergaß und dann ein unfreiwilliges Bad nehmen mußte.
Den ganzen Sommer über liefen wir Kinder nur in Badehosen herum, denn unser liebstes Spielfeld war der Fluß. Wir konnten alle schon als Kleinkinder schwimmen und waren von morgens bis abends im oder am Wasser. Wir pflückten die schönsten Wasserrosen und machten daraus Halsketten. Wir schwammen bis zu Henkels Badeanstalt, sprangen dort vom Sprungbrett und kletterten zwischendurch auf den Holzstapeln und Brettern des Sägewerkplatzes herum. Zu den Mahlzeiten mußten uns unsere Eltern und älteren Geschwister meist suchen. Abends machten wir mit Henkels Booten gelegentlich Lampionfahrten auf dem Fluß. Henkels Jungen veranstalteten mit ihren Freunden in diesen Booten manchmal "Wasserschlachten", wobei der "Gegner" nicht selten regelrecht versenkt wurde. Wir saßen dann am Ufer und sahen diesem fröhlichen Treiben belustigt zu.
Der Winter kam oft schon im Oktober zu uns. Kaum war der Fluß zugefroren, versuchten wir schon darauf zu schorren. Wenn das Eis dann dicker war, wurde von morgens bis abends Schlittschuh gelaufen oder gerodelt.
War der Fluß zugeschneit, ließ Frau Henkel für uns eine große Fläche freifegen, damit wir darauf Schlittschuh laufen konnten. Das gab einen Heidenspaß. Oft kamen wir erst abends beim Mondschein nach Hause. Eines Abends rief Frau Henkel die Kinder, die noch auf dem FIuß waren, herein und überraschte sie mit einem Berg Pfannkuchen. Sie sagte, daß drei Pfannkuchen mit Mostrich gefüllt wären, die übrigen mit Marmelade. Es begann ein eifriges Pfannkuchenessen, jeder war neugierig, wer wohl zuerst in den Mostrich beißen würde, aber das war nur ein Ulk. Weihnachten war es bei uns besonders schön. Der Schnee lag meist so hoch, daß man die Haustür morgens freischaufeln mußte. Uns Kindern machte es besonders Spaß, wenn wir bis zum Bauch im Schnee versanken: Dann hatten wir schulfrei.
Ich kann mich noch erinnern, als am Heiligen Abend Männer mit einem großen beleuchteten Adventsstern durch die Straßen zogen. Zum Schluß wurde er in die evangelische Kirche gebracht, und der Posaunenchor spielte dazu Weihnachtslieder. Anschließend war der Christnachtgottesdienst. Ganz still war es in der Kirche, wenn der Kirchenchor sang: "Schweigt ihr ernsten Glocken, schweiget. Menschenkinder betet an " Wenn wir gegen 18 Uhr nach Hause kamen, war der Weihnachtsmann da. Silvester wurden allerlei Scherze gemacht, die manchmal bis zum groben Unfug ausarteten. So wurden Gartentore ausgehängt, der Bierwagen auf den zugefrorenen Fluß geschoben und dergleichen mehr. Am nächsten Morgen hatte man Mühe, die verschleppten Sachen wiederzufinden. Ganz früher zogen Silvester auch verkleidete "Bären" umher und sammelten Gaben.
Die ganze Insel stand unter Naturschutz. Überall, vor allem aber in der Mitte der Insel, standen riesige Bäume Linden, Ahorn, Kastanien, Erlen , deren Laub viel Schatten spendeten. Der Graben, der die Insel umgab, war an vielen Stellen von hohen Büschen und Bäumen umsäumt. Hier konnten sich Wildenten und Vögel nach Herzenslust tummeln. Ungefähr im Jahre 1935 fegte ein heftiger Sturm über die Insel und legte fünf uralte dicke Bäume zum Teil mit Wurzeln um.
Unsere Insel war ein herrliches Stückchen Erde, an dem unser aller Herzen auch heute noch hängen; weil unser aller Jugend hier ihren Ausgangspunkt hatte, der zuvor das Paradies der Kindheit einleitete. Oft fliegen meine Gedanken nach dort hinüber, und ich frage mich, wie mag es heute wohl dort aussehen? Von Bildern, die in den letzten Jahren dort gemacht wurden, und von Landsleuten, die dort waren, erfuhr ich, daß das große Haus, in dem früher die Zöllner wohnten, nicht mehr vorhanden ist. Hier sollen jetzt Baracken stehen. In den beiden anderen Häusern wohnten nach Kriegsende deutsche Familien, die dort geblieben waren. Ihnen haftet die Erinnerung an die Insel als dunkelster Punkt ihres Lebens an. Nachdem man alle zurückgebliebenen Willenberger 1946 in der Schleusenstraße, untergebrachte hatte, mußten sie sich auf der Insel tagtäglich zum Arbeitseinsatz melden. Ihr Auftrag lautete: Beseitigung von Tierkadavern und anderen erniedrigenden Arbeiten. Ein ehemaliger Willenberger leitete diesen Einsatz mit vielen menschenunwürdigen Schikanen.
Annemarie Falk in "Ortelsburger Heimatbote" © 1991 by Kreisgemeinschaft Ortelsburg